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Sinai
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MARIN

Titel: "Marin" erschienen 2004

Autor: Mathias Schröder

Leseprobe:

DER WEG NACH LAMPEDUSA

»Diese Insel hat der Teufel ausgespuckt«, sagte eine Frau hinter ihm. Franziska, das hättest du sagen können! Er drückte seinen Kopf gegen das Flugzeugfenster und blickte hinunter auf das blaue Meer. Tief unten sah er eine sandfarbene Insel, etwa fünfzehn Kilometer lang und vier Kilometer breit. Dieses kleine Stück Land hatte seit Jahrtausenden in den Fluten überdauert. Sichtbar nur an der karstigen Oberfläche, ragte ein kompakter Felskegel in die Bucht von Tunis. Diese Insel Lampedusa war, wie er wußte, der südlichste Punkt Europas und wurde im letzten Weltkrieg von den Amerikanern als Flottenstützpunkt benutzt, abgeholzt und dann verlassen.

Es war 12.30 Uhr, die Sonne brannte im Zenit, und die DC-9 von Rom und Palermo war angeflogen. Sie zog eine Wendeschleife, verlor beträchtlich an Höhe und donnerte auf den Asphaltstreifen der Landebahn zu. Er spürte den harten Stoß der Räder, atmete aus, hörte den Gegenschub der Bremsen, ein Pfeifen, das zum hysterischen Kreischen umschlug, und sah in Gedanken eine gewaltige Wolke aus Öl und Sprit gegen den makellos blauen Himmel sich ballen, die wohl minutenlang über dieser karstigen Insel hing, um ebenso plötzlich, wie sie die Luft verfinstert hatte, wieder in Wind und Blau unsichtbar zu werden.

Später, als er nackt auf der Terrasse seines Appartements unter dem Himmel und einer kreisrunden Sonne lag, spürte er, diese Insel hatte ihren eigenen Atem. Ein launischer Wechselrhythmus war es, der nie zur Ruhe kam. Lampedusa atmete wie ein Lungenkranker, der, zu lange einer gnadenlosen Sonne ausgesetzt, im Davonlaufen einfach niederbricht und röchelt, säuselt, hustet, sekundenlang den Atem anhält, um ihn dann

in seufzerlangem Stoß gegen Meer und Hitze wieder auszupressen. Er lag unter dem Wind, der kühl über die kleinen Schweißperlen auf seiner Haut strich. Der Schatten einer Möwe huschte über die Steinplatten der Terrasse.

Am zweiten Tage seines Inseldaseins fiel ihm die Uhr vom Handgelenk, weil der Schweiß die Klebung zersetzt hatte. Sie schlug auf den Karstboden und blieb stehen. Ab dann versuchte er, sich nach der Sonne zu richten und wußte, wenn er an einer bestimmten Stelle der Terrasse im Liegestuhl saß und Strahlen an der Dachkante vorbei auf ihn herunterschienen, war es gegen ein Uhr.

Bald darauf hörte er den Start der DC-9 nach Palermo. Nachdem die Maschine ihre Kehrschleife über dem Meer im Osten gezogen hatte, sah er sie, das Cockpit steil nach oben gerichtet, vorbeifliegen, an Höhe gewinnen und hörte nur noch dieses schnell zum Summen werdende Grollen der Düsen, wenn sie am Westhimmel im durchsichtigen Blau verschwunden schien.

Am Tage summten die Fliegen, nachts zogen die Moskitos sirrend ihre Fangschleifen durch die Dunkelheit. Anfangs noch schlug er nach ihnen, ließ seine Schulter- und Nackenmuskeln zucken, zog sich die Decke über den Kopf, bis ihm die Luft knapp wurde. Dann gab er auf. Nackt auf dem Bett spürte er die ersten Einstiche an Knöcheln und Schenkeln und fühlte, wie sie ihm Ohrläppchen und Augenlider punktierten. »Laß uns ein Kind haben, jetzt in diesem Augenblick!« hatte Franziska immer wieder gesagt, aber das Kind blieb aus.

DER WEG NACH LAMPEDUSA

Kapitel 2

Der weiße Streifen an seinem Handgelenk, von dem die Armbanduhr abgefallen war, hatte schon nach wenigen Tagen Sonnenbräune angenommen. Er sah die Fischerboote in der Hafenbucht, die ihre spitzen Kiele so gerichtet hatten, als würde eine Sturzflut sie über die Hafenmole hinwegreißen wollen zu einer schnellen Invasion des Festlandes. Der Wechselwind aber trieb die Wellen hinaus aufs Meer, und so lagen die Schiffe gefangen unter der Sonne und zerrten an ihren Ankerketten.

Er beobachtete zwei alte, schwarzgekleidete Frauen. Wie in den frühen Jahren schauten sie hinaus aufs offene Meer, als ihre Männer und Söhne noch hinausgefahren waren und zurückkamen mit frischem Fang oder nie mehr heimkehrten, weil die tückische See sie getötet hatte. Fast gleichgültig schauten sie jetzt, als sei ihnen aus hartem Schicksal und gemeinsamen Leid ein stillschweigendes Einvernehmen zugewachsen.

Auf der karstigen Straße zog ein Schafhirte mit seiner Herde gegen den scharfen Felsrand der Insel hin, vorbei an geduckten Häusern, deren Dächer flach sind und abgeschrägt, so daß der Regen hinunterfließen kann. Blökend blieben die Schafe stehen an den hochgestapelten Steinmauern und zupften hier und dort ein Gras aus der spärlichen Erdkrume.

Was hier wuchs, wuchs klein, aber zäh und stark. Es war gekeimt und aufgewachsen gegen die Sonne, in diesem steinigen trockenen Boden, in dem die Wurzeln sich mühsam hinunterbohren müssen.

Marin lag auf der ummauerten Terrasse und spürte die Hitze. Die Augenlider hielt er geschlossen und hörte Musik, die von weit her kam, als sei sie im Schirokko von Tunis herübergeflogen. Irgendwann schlief er ein, und im Traum kreisten die Seefalken hoch über den Steilküsten, und er hörte die Luft durch ihre Schwingen zischen und sah sie plötzlich herunterstoßen und über seinem Kopf sehr enge Schleifen ziehen.

DER WEG NACH LAMPEDUSA

Kapitel 3

Günther Marin war neununddreißig Jahre alt und Oberarzt an einer bundesdeutschen Universität im Westen. Als er nach hektischem Nachtdienst und nur drei Stunden Schlaf hellwach wurde, wußte er sofort: dies ist ein besonderer Augenblick, ein Morgen ohne Wind.

Der Tag war jung, Marin fühlte sich alt und traurig. Er sah einzelne Patienten in ihren Betten und sich selbst auf einem Stuhl gegenüber sitzen und hörte ihre Stimmen, in die aus den Tiefen der Menschenseele Leid drang. Und so war er, Zuhörer und Tröster oft in allerletzter Not, zu oft schon Gefäß gewesen, zu oft schon erhitzt worden und dann erkaltet, und hatte tiefe Risse und eine spürbare Brüchigkeit dessen, was er seine Liebe zu den Menschen nannte, nicht verhindern können.

Das Morgenlicht schmerzte ihn. Und aus der Erinnerung drängten graue Gesichtsflecken hervor, für die er kein Lächeln mehr fand und keinen Trost. Es waren zu viele gewesen in den Hospitälern: Menschen, die kamen und gingen oder auf klapprigen Leichenkarren ins Kühlhaus gebracht und eingefroren worden waren. Zu selten hatten ihn Seelen angerührt, die unverwüstet, im ausgeglichenen Wechselspiel mit den kosmischen Gesetzen, Ruhe und Freude ausstrahlten an der Fülle des Seins: und das trotz dieser bitteren Vergänglichkeit des Lebens.

Er wußte, daß auch Ärzte beteiligt waren an den Verbrechen der Nazis. »Juda verrecke!« hatte an jeder Straßenecke gestanden, und manche Ärzte hatten nicht Nein gesagt zum Mord

an Geistesschwachen, zum Mord an den Asozialen und Außenseitern der Gesellschaft. Mit ärztlicher Hilfe waren sie in KZs abgespritzt oder zu Tode unterkühlt worden. Marin hatte gelernt, die Schuld jener Kollegen auch als seine eigene Last zu akzeptieren.

Immer noch lag er reglos, sah die Silbersonne draußen am Himmel, hörte die ersten Geräusche auf den langen Gangfluchten des Hospitals und tauchte wieder in die Stille, die er früher gebraucht hatte, die ihm in letzter Zeit aber manchmal unerträglich geworden war. Da sang eine Amsel draußen in der Frühlingsluft. Er lauschte angestrengt diesen Tönen, die ein unbegreiflicher Wille aus der Vogelkehle steigen ließ: diamanthart und süß. Der Vogel verstummte. Er ging zum weitgeöffneten Fenster und sagte laut in die Stille: »Ich gehe hier weg. Ich werde mein altes Leben neu beginnen.«

Am selben Tag noch schüttelte sein Professor heftig den Kopf und wies auf die Versuchsanordnungen im Laboratorium hin, die vor einem sehr erfolgreichen Abschluß standen. Aber Marin dachte immer wieder: Dieser Alptraum von Karriere ist nicht, was du brauchst und willst.

»Denken Sie doch an Ihre Arbeit! Drei lange Jahre! Soll das umsonst gewesen sein!?!«

»Mein Entschluß steht fest, Herr Professor!«

»Sie sind ein Narr – mein Lieber!«

Und der Narr in ihm lachte laut, und Marin fügte hinzu: »Mir ging’s nie um die Wissenschaft, die kommt leicht ohne mich aus!« Der berühmte Mann hatte geseufzt, um die Lippen gelächelt und ihm die Hand geschüttelt, von der Marin ganz genau wußte, daß an ihr Blut klebte aus vergangenen Zeiten. »Reisende soll man nicht aufhalten!« sagte er dann leichthin.

Noch am selben Tag war Marin losgefahren mit seinem R4, zwei Koffer hinten drin, unter einer wärmenden Frühlingssonne, die Landstraße entlang, durch den Pfälzer Wald nach Karlsruhe und dann in scharfem Tempo die Autobahn hinunter nach München. Diese stundenlange Fahrt tat ihm gut. Jäh empfand er den Schmerz der Loslösung.

Bei Augsburg hatte er jene seltsame Erscheinung wie früher bei den optischen Versuchen: Noch eben war von der Leinwand der scharfgestochene Kreis als Bild auf seine Netzhaut übertragen worden, als das Licht verlöschte und derselbe Kreis, ebenso scharf umrissen, in seinen Augen nachglühte, schwächer wurde und verschwand. Und so erging es diesem Trennungsschmerz, als die Dunkelheit sich unmerklich in das Abendrot gemischt und den Himmel so schwarz gefärbt hatte, daß er hell die Sternbilder in der Nacht sah und im Licht der Scheinwerfer grob gekörnt den Asphalt der Autobahn.

DER WEG NACH LAMPEDUSA

Kapitel 22

Heute morgen im Spiegel, aus dem Rasierschaum herausgeschnitten, sah ich plötzlich ein ganz anderes Gesicht: die Fettpolster waren verschwunden, in ihm lag Maß und Disziplin. Ich lächelte.

Ein letztes Mal ging ich zur Via Roma. Ich war dem Abschied voraus.

Am Straßenrand hier und da Bauschutt oder kleine Mörtelhaufen. Jedes dritte Haus ist ein halbfertiger Neubau: Betonsäulen ohne Dach. Die Fischer dringen ein in dieses Meer, das sie nährt und ihr Schicksal mitbestimmt bis zur Vernichtung, dachte ich: sie tauchen in die Tiefe des »Totenmeeres« und beten dort ein menschliches Ebenbild an.

Beinahe wäre ich mit ihm zusammengestoßen. Der junge Mann stand vor mir in verwaschenen Jeans und hatte häßliche Schwären auf der Oberlippe. So ganz und gar nach innen gerichtet war sein Blick, daß ich ihn herzschlaglang für einen Idioten hielt.

Er streckte mir die Hand entgegen, auch die war voller Geschwüre. Ich wollte weglaufen und blieb stehen. Er sah mich schweigend an, und ich kramte in meinen Taschen und gab ihm alles, was ich bei mir hatte. Glücklich wies er zum Straßenrand, wo eine Frau saß mir vier abgemagerten Kindern. Ich verbeugte mich und ging davon.

Vier Wochen lang habe ich keine Zeitung gelesen. Es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Generationen von Eintagsfliegen sind hinter meiner Glasscheibe ins Licht geschlüpft und in der nächsten Nacht gestorben. Der Tramontana trägt Stimmen vom Strand herauf. Die Brandung rauscht. In mir ist Ruhe und Harmonie.

Stirb und Werde: hin zu jenem Urbild, das uns der Schöpfer in die Seele gelegt hat. Das ist der Weg ins Licht. Jahrzehnte lang bin ich blind gewesen. Jetzt beginne ich zu sehen und bin dankbar dafür: Leben und Schöpfung ruhen in einer Hand. Mein Herz ist weit geöffnet.

»Nun aber bleiben: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Irgendwann schlief ich ein in dieser Nacht und wußte meine Seele geborgen.

Seitenanfang

SINAI

Früher hatten sie eine große Maisonettewohnung im bayerischen Oberland bewohnt in einem dreihundert Jahre alten Palais, der ehemaligen Sommerresidenz des münchner Bischofs, liebevoll renoviert mit uraltem Gebälk, das in den Frühjahrsstürmen gespenstisch ziepte und laut knarzte, wenn der Neuschnee auf dem Dach mit einem tonnenschweren Gewicht die Balken bog. Morgens und abends waren sie die gut 40 Kilometer zwischen Wohnung und Praxis hin- und hergefahren, zuerst das ganze Jahr hindurch, dann aber, als zunehmender Verkehrsstau die Fahrzeiten verdoppelt hatte, schliefen sie unter der Woche im Hinterzimmer der Praxis, die sie als einziges Eigentum erworben hatten, und nutzten die schöne und erholsame Wohnung nur noch an den Wochenenden. Beide näherten sich dem fünfzigsten Lebensjahr. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, weil sie sich zu spät gefunden hatten und auch, weil die schnellwachsende Praxis, nicht aber die Familie, ihr eigentlicher Mittelpunkt geworden war. Marin hatte sie in den Siebzigern allein gegründet und aufgebaut, Maria war 1982, kurz nach ihrer Hochzeitsreise als Sprechstundenhilfe eingearbeitet worden. Sie schlugen die Warnungen in den Wind, daß Liebende nicht zusammen arbeiten sollen, weil ein Zuviel an Nähe ein Zuwenig an Liebe nach sich zöge: Das Gegenteil war der Fall. Diese gemeinsame Arbeit für kranke Menschen lehrte sie, Eigenes zurückzustellen, um den wirklich Bedürftigen zu dienen. Aber dieser Dienst in der Praxis und in fünf Altenheimen wurde immer umfassender bis hinein in die Nächte und in die Wochenenden, so daß ihnen weite Autofahrten ins Oberland oft bei Schnee und Eis, fast immer bei Wind und Wetter, zu anstrengend wurden: Sie begriffen, warum der Bischof dort nur im Sommer gewohnt hatte. Natürlich hatten sie kein Stadtpalais und konnten sich nicht mal eine teure münchner Wohnungsmiete leisten, weil ihre Praxis zwar sehr viel Arbeit brachte, aber nur ein mäßiges Einkommen. Also gingen sie noch einmal zur Bank und bekamen einen Kredit. Dann begann die zermürbende Suche. Wiederum überhörten sie eine gängige Warnung: Treibe die Liebe einer Frau nicht zu sehr in die Enge, sonst wird sie

bissig. Marin fand per Zeitungsinserat eine Zweizimmerwohnung fünf Minuten von ihrer Praxis entfernt an der nördlichen Auffahrt des Nymphenburger Kanals in einer der besten Gegenden der Stadt. Als Maria sie zum ersten Mal sah, wurde sie bleich bis in die Haarwurzeln. »Nur über meine Leiche bringst du mich in dieses Loch!«

Sie war zuerst empört und dann fassungslos. Marin hatte nicht nur ihren Komfort von 140 auf 50 Quadratmeter absenken wollen, hinzukam, daß die kleine Wohnung im Hinterhaus einer großen Anlage aus den späten sechziger Jahren lag, in die zugleich neben Geschäften und Büros ein privates Altenheim eingemietet war.

»Das ist zuviel!« rief sie und pendelte in dem düsteren Parterre hin und her: »Wir arbeiten in fünf Altenheimen und sollen jetzt auch noch freiwillig in einem wohnen!«

»Es wird ein Traum in Weiß: Weiße Küche, weiße Rauhfaser, schneeweiße Badezimmerfliesen, dazu ein gepflegtes Eichenparkett ...«

»Und unsere schönen Möbel« rief sie wütig: »Wohin damit?«

»Hier hinein, der Rest wird storniert. Wir sollten zugreifen, wo kriegst du in München ein Eigentum für 170.000 Mark?« sagte er eindringlich. Sie schwieg. Marin folgte ihr auf Zehenspitzen, denn er wußte: Sie renoviert in Gedanken, wählt Farben aus und Vorhänge, stellt die Möbel und hängt die Bilder auf ... Er wußte, sie würde Ja sagen. Aber er kannte den Preis.

»Ja« sagte sie echt fraulich.

»Gut, du darfst sie renovieren und einrichten!«

Da lachten sie und tanzten Walzer nach einer unhörbaren Musik bis ihnen schwindlig wurde. Dann blieben sie stehen und küßten sich mit geschlossenen Augen.

»Du wirst es nicht glauben« sagte Marin plötzlich: »Vor ein paar Wochen sprach eine Stimme in meinen Schlaf: Nimm diese kleine Wohnung am Nymphenburger Kanal, die ich dir schicken werde. Die Stimme war so klar und deutlich, daß ich davon wach wurde. Du hättest dir einen Spaß erlaubt, glaubte ich.«

»Diese Wohnung hätte ich Dir kaum im Schlafen, schon gar nicht in wachem Zustand empfohlen!« erwiderte sie trocken: »Träume sind Schäume!«

Als sie nun an dem dunklen Oktoberabend durch den

großen Park der Anlage in das kleine einstöckige Hinterhaus und in den notbeleuchteten Gang einbogen, fühlten sie sich sehr zu Hause und freuten sich auf die warme, behagliche Zuflucht. Um keinen Preis hätte Maria sie wieder hergegeben. Nur fünf Autominuten von der Praxis entfernt, war sie pflegeleicht und besonders ruhig, weil das fünfstöckige Vorderhaus den Straßenlärm abhielt und zugleich den Garten zwischen den Häusern begrenzte: In ihm wuchsen Fichten, Nuß- und Kirschbäume und eine Thujenhecke, auf die sie vom Bett hinausblickten. Thujen und Fichten waren immergrün auch unter der Schneelast des Winters. Bald hatten sie das Oberland fast vergessen. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Stehküche, Bad: Hier wurde zusammengerückt, was zusammensein und bleiben wollte: Auch wenn sie mal stritten, begriff Marin das Glück, von einer klugen Frau geliebt zu werden.

»Die Sinai-Halbinsel liegt zwischen Afrika und Asien. Sie entstand vor 30 bis 40 Millionen Jahren, als Arabien von Afrika wegzudriften begann. Der Bruch wurde mit Wasser gefüllt, und das Rote Meer umspülte diesen Faustkeil Gottes.«

Maria hatte nach dem Abendessen zum Buch gegriffen und las vor in dem purpurfarbenen Plüschsessel, während Marin auf dem Bauernsofa sich ausstreckte und ihr zuhörte. »Parallele Gesteinsbänder ziehen über die Berge und Hügel, schwarze Lava, die aus dem Erdinnern in die aufbrechende Erdkruste glühendheiß emporquoll und erstarrte ...«

»Ist dir nicht gut, Maria?« Erschrocken hatte sich Marin aufgerichtet, während sie beide Hände gegen die Schläfen gepreßt hielt und leise stöhnte.

»Die Wechseljahre klopfen an, auch in meinem Kopf« sagte sie und griff nach dem Reiseführer: »Bald hast du eine alte Frau, die keine Kinder mehr bekommen kann ... Die Sinaihalbinsel hat eine Nordsüdausdehnung von 400 Kilometern und ist 200 Kilometer breit. Der Norden besteht aus eintönigen Ebenen, die einer Wüstenlandschaft nahe kommen, und die nur von wenigen Hügelzügen durchsetzt sind. Der Steilabfall des Tih-Plateaus wirkt wie eine scharfe Trennungslinie: Südlich davon ragen schroffe Bergstöcke in Rot, Rostrot und Braun

mit dem 2.642 Meter hohen Gebel Katharina als höchster Erhebung ...«

»Sollten wir diese Kopfschmerzen nicht doch abklären lassen!« unterbrach Marin: »Gleich morgen schicke ich dich zum Neurologen!«

»Das wirst du nicht tun« erwiderte sie verärgert: »Wir sind mitten im Winterquartal, wer soll meine Arbeit tun? Glaube mir, es ist die Hormonumstellung und mein niedriger Blutdruck. Ich habe diese Schmerzen früher auch schon gehabt, immer ein paar Tage vor der Periode: Also, laß es dabei! ...

Im Osten stürzen die Berge fast senkrecht hinab auf die Wasserlinie des Golfs von Aqaba und setzen sich unter Wasser fort bis auf den felsigen 1.800 Meter tiefen Grund. Eine Küstenebene ist kaum vorhanden, die beiden Orte Dahab und Nueiba liegen auf Geröll, das von sintflutartigen Regenfällen der letzten Jahrtausende einfach ins Meer hinausgespült wurde. Der Sommer ist heiß und trocken mit Temperaturen im Schatten bis zu 40 Grad, der Winter von November bis April ist kühl. In dieser Jahreszeit fallen die wenigen, heftigen Niederschläge, und in den Wadis reißen Sturzfluten alles mit: Dann kommt es vor, daß Menschen und Tiere in der Wüste ertrinken. Bald darauf überzieht eine üppige Blütenpracht den scheinbar toten Boden. In den Bergen aber fällt Schnee.«

Das Telefon zertönte den Abendfrieden. Marin sprang auf, so wie er es von früher aus der Klinik gewohnt war, weil fast jeder Anruf bedeutet hatte: Es geht um Sekunden bei einem Verkehrsunfall oder Herzstillstand oder was immer ein Nachtdienst mit sich bringen konnte an Schrecknissen.

»Ja, Marin«

»Herr Doktor Marin?«

»Ja«

»Dann kommen sie ganz schnell, ich bin die Wohnungsnachbarin von Herrn Wurzfeld! ...«

»Was ist passiert?«

»Herr Doktor, ich glaube, es ist zu Ende: Es ist ganz schrecklich, bitte kommen Sie!«

Er griff nach seinen Schuhen und rief ins Wohnzimmer hinüber: »Ich muß schnell zu Herrn Wurzfeld, bleibe du hier!«

Aber Maria war auch in ihre Slipper geschlüpft und nahm bereits den rostbraunen Mantel vom Garderobehaken. Schon rannten sie den schmalen Gang mit seinem tristen Licht entlang und zwei Treppen in die Tiefgarage hinunter. Während Marin den alten 190er anließ, hatte Maria den Strick der Türautomatik gezogen. Los ging’s durch die südliche Kanalauffahrt. Das Wasser schimmerte dunkel, die Straßenlampen sandten glitzernde Lichtreflexe. Ockergelbe Kastanienbäume hatten lange schon die ersten Blätter geworfen. »Was wäre ich ohne dich, Maria: Du bist der ruhende Pol unserer Praxis und mein Schutzengel noch dazu!«

Marin bog vom Kanal in die Nymphenburger Straße ein.

»Du übertreibst: Ich bin nur dein linker Arm und deine linke Hand und ein bißchen auch dein Mund: Das ist alles!«

Unter dem Fahren gab er ihr einen Kuß aufs Haar. Sie legte ihre linke Hand leicht auf seinen Oberschenkel. Er war jetzt ein kurzes Stück auf dem Mittleren Ring gefahren zwischen hohen alten Jugendstilhäusern, die im letzten Krieg heil geblieben waren, dann bog er in die Leonrodstraße, später in die Artilleriestraße und hielt an vor der Nummer 95. Sie strebten die Treppen empor in den dritten Stock. Die Eingangstüre war weit geöffnet. Sie sahen ihn hängen an einem derben Strick. Sein bekleideter Körper schwang ganz leicht im Wind, der durch das geöffnete Fenster strich. Auf dem Sofa kauerte die Frau, ihr Gesicht war im Schrecken wie erstarrt. Seine Zunge ragte prall und riesengroß aus dem Mund, und die braunen Pupillen schwammen in blutroter Gallerte. Die Muskeln waren verzerrt und entstellten sein Gesicht wie zu einer allerletzten unmenschlichen Grimasse.

»Geht raus hier« sagte Marin.

»Haben Sie die Polizei gerufen?«

»Ja!«

Er hörte das Polizeihorn weit entfernt in der Nacht. Erst jetzt roch er den Gestank, dann sah er große Flecken von Kot und Urin in der grauen Hose des Toten. Der Urin tropfte aus dem linken Hosenbein. Warum hat er nicht angerufen, dachte der Arzt: Allein hat er auf dem Stuhl gestanden und hat ihn umgestoßen. Ich war nur wenige Kilometer entfernt. Dann sah er den Briefbogen auf dem Tisch liegen und las: Ich habe den Freitod gewählt und gehe gern aus dieser Welt: Von einem Nichts ins andere Nichts. Gott ist tot, die Menschheit auch, darum habe ich mich für die Freiheit entschieden! Karl Wurzfeld

SINAI

Kapitel 4

Es war 1 Uhr nachts, als Maria den Wecker stellte. Sie lagen im Bett unter dem Engel, den ihnen einst ein krebskranker Holzschnitzer vor seinem Tode geschenkt hatte. Der Bube lächelte in hellrosa. Er hatte dicke Pausbacken und goldene Flügel. Obwohl er an einem Nagel hing, hatten sie ihn zu ihrem lebendigen Schutzengel erklärt.

»Ich kann nicht schlafen« sagte Maria: »Ich sehe ihn immer noch hängen, und sehe dieses Grauen in seinem Gesicht. Der Tod hatte ihn im Griff: Als sei er seelenlos gestorben, nur noch Muskel, Sehnen, Nerven und Schmerz!«

»Vielleicht ist Selbstmord eine Sünde« sagte Marin leise: »Ein Schlag gegen Gott. Die Seele stirbt im selben Augenblick, deswegen diese Leere in einem solchen Schrecken!« Aber womöglich hat er die halbe Nacht in der Küche gesessen und mit dem Entschluß gerungen. Seelischer Kurzschluß.

»Es war ein Mann im Lande Uz«, sprach sie leise in die Stille der Nacht: »Der hieß Hiob. Derselbe war schlecht und recht, gottesfürchtig und mied das Böse ...«

Und Marin sprach weiter in die Dunkelheit, welche aus

der mondlosen Oktobernacht in ihr ebenerdiges Zimmer zu drücken schien: »Es begab sich aber auf einen Tag, da die Kinder Gottes kamen und vor den Herrn traten, kam der Satan auch unter ihnen. Wo kommst du her? Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe das Land umher durchzogen. Der Herr sprach zu Satan: Hast du nicht acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn es ist ein gleicher nicht im Land, schlecht und recht, gottesfürchtig und meidet das Böse ...«

Mitunter hatten sie diesen Text gemeinsam beschworen wie einen Talisman, wenn das Leid der Patienten sie wie eine Sturzflut mitzureißen drohte.

»Ich hätte bei ihm sein müssen« sagte Marin zögernd: »Sein Tod ist auch mein Versagen! Ein einziger Besuch zur rechten Zeit oder nur ein einziger Anruf heute Abend hätte vielleicht genügt!«

»Mehr als du tust, kannst du wirklich nicht tun!« Sie war jetzt ein bißchen wütend: »Schau dich im Spiegel an! Tiefe Augenringe, dein müdes Gesicht, im Schlaf sprichst du so laut mit deinen Patienten, daß ich davon wach werde: Jedem von uns sind Grenzen gesetzt!«

Sie lag ganz ruhig und griff nach seiner Hand: »Wir müssen schlafen, es bleiben nur noch vier Stunden«.

Dann drehten sie sich um. Im Traum strich eine Hand über sein Haar, ergriff ihn wie eine Feder und versetzte ihn in eine Felsenhöhle, die vergittert und von lodernden Flammen umgeben war. Marin schrie, erwachte und war erschrocken über diesen Schrei, den man im ganzen Haus gehört haben mußte. Maria schlief ruhig. Er fühlte die feuchte Herbstluft durch den Kippspalt des Fensters streichen: Es war nur ein Traum, ein furchtbarer Alptraum. Er sah die Leuchtziffer der Uhr: Es war fünf. Gern hätte er Marias Hand berührt, um diese bedrohliche Angst zu mildern, die von ganz tief innen nach ihm griff. Da hörte er zuerst ein Pfeifen, dann ein rhythmisches Flappen im Herbstwind und über seinen Kopf ziehen wie die Vorhut der wilden Jagd und wußte, es waren Schwäne unterwegs vom Nymphenburger Kanal zu den großen Teichen des Schloßparks, wo sie mit gestreckten Beinen und gespreizten Schwimmhäuten landen würden unter den ausgebreiteten weißen Schwingen. Anderen Tags, in steinernem Schlaf, hörte er irgendwann Marias vertraute Stimme: »Günther, wach auf! Das Bad ist eingelassen!«

An den Labortagen benutzte sie es zuerst und ging dann in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten, während Marin sich fertigmachte. Ein eiliges Müsliessen, sie Kaffee, er Tee,

und schon saßen sie im Auto und rollten durch die fahle Dämmerung unter den Lampen der nördlichen Auffahrtsallee an den Villen des alten Nymphenburg vorbei, während links neben vergilbten Kastanienbäumen die Wasser des Kanals unter den Windböen wie schwarzes, gehämmertes Blech vorbeiglitten.

Frau Riehl, die Teilzeitmitarbeiterin, würde bereits die schweren Sicherheitsrollos der Praxisräume hochgezogen haben, die Lampen würden hell und anheimelnd brennen, und im Wartezimmer würden alle Stühle besetzt sein von den ersten, ganz frühen Patienten, die ihre Arbeit nicht versäumen wollten.

Schweigend waren sie gefahren und hatten das Auto in einer Parkbucht der Frundsbergstraße abstellen können: Ein Glücksfall in diesem dichtbewohnten Viertel mit seinen vier- und fünfstöckigen alten Bürgerhäusern, viele davon im letzten Krieg zerbombt und wieder aufgebaut. Sie kannten

die meisten und natürlich die Menschen, die in ihnen lebten, weil kaum einer nicht irgendwann in den letzten 20 Jahren dringend nach dem Doktor Marin oder seiner Frau verlangt hatte.

»Guten Morgen, Frau Doktor«, hörte man Stimmen aus dem Wartezimmer, während er eilig den schmalen Gang entlanggehuscht war ins Bad, wo sein Kittel baumelte, den er jetzt überstreifte: ein Blick in den Spiegel, die Haare glattgestrichen, schon saß er im engen Laborraum und sagte: »Fangen wir an«.

Die blonde Frau Riehl, obwohl sie vierundzwanzig Jahre jung, sehr gesund und dazu noch frisch verliebt war, blickte ihn mürrisch an und rief ins Wartezimmer hinüber: »Frau Audele, kommen Sie«. Maria, die zwischen Labor und Wartezimmer an ihrem Kiefernschreibtisch saß, fügte schnell ein freundliches »bitte« hinzu. Die alte Frau Audele war schon zwanzig Jahre Patientin bei ihm. »Guten Morgen, Frau Doktor Marin«. Maria legte den Arm um ihre Schultern und erwiderte: »Nur Frau Marin, bitte, mein Mann ist der Doktor«. Die Patienten im Wartezimmer kicherten. Jetzt tastete Marin nach den Venen der alten Frau. Er wußte aus häufigen Fehlversuchen, wie schwierig die zu treffen waren, weil sie verkalkt und siebenundachtzig Jahre alt, oft einfach davonrollten, vor der scharfgeschliffenen Nadelspitze. Sie ließ den Atem herauszischen.

»Gott sei Dank, sie haben’s wieder mal geschafft!«, Marin lächelte und gab die blutgefüllten Röhrchen der Frau Riehl, die neben ihm eintütete. Sie gehörte zur Sekte der Heilswächter und versuchte, jeden Menschen in jeder freien Minute zu bekehren, auch in der Praxis, was der Arzt ihr untersagt hatte.

»Am Ende der Welt werden die Menschen selber Schuld sein« begann sie in etwas spitzem und lehrhaftem Ton. Wenn ihr der Arzt nicht sofort und sehr bestimmt das Wort abschnitt, was ihm schwerfiel, weil das geduldige Zuhören seine Berufspflicht war, dann gab’s kein Halten mehr, und Frau Riehl brachte ihre Botschaft sehr gekonnt an. »Sie werden schließlich so lange mit dem Feuer spielen, bis Gott dazu Nein sagen wird. Du wirst die nackten Berge sehen und die leeren Hütten, wenn die Zeit da ist, da der Tod den Menschen anspringt mit tausend Blitzen. Weiber heulen und die Männer fluchen, aber es gibt kein Entrinnen. Alsdann wird man den Schöpfer suchen mit allen Lichtern in Wald und Feld!«

»Manche glauben, das Böse überwunden zu haben, wenn sie es hassen« sagte Marin und dachte, während die Conny sich auf den Laborstuhl setzte: Die deutsche Wiedervereinigung im letzten November hat unsere Kassandra nicht vorausgesagt.

»Conny, wie geht’s euch?«

Sie blickte ihn traurig an. Er hatte schon ihre Eltern als Arzt betreut und behandelte auch ihre Kinder, Anne und Moritz. Sie kam mit vielen Problemen.

»Wir reden nach der Laborbesprechung am Montag« sagte er behutsam. Er nahm das Blut ab. Sie ging schnell ins Wartezimmer, wo Maria bei den Kindern Wache hielt.

SINAI

Kapitel 9

»Was hast du?« Maria strich über seine Wange, so zärtlich,

daß ihm entfuhr: »Was wäre ich ohne dich?« Wenn heftige Naturen sanftmütig werden, dann gibt es einen zauberkräftigen Schmelz.

»Hast du mich betrogen?« Sie lachte: »Das klingt nach Drachenfutter!«

Vor der Rotampel küßte er sie wieder und noch mal. Dann hörten sie das laute Hupen der Autos hinten in der Schlange. Schnell legte er den Gang ein und fuhr los, während Maria lustig zurückwinkte.

Frau Riehl saß schon am Schreibtisch im Empfang und hatte die Sprechstunde vorbereitet.

»Guten Morgen!«

Ihr Stechblick sah nur ihn. Sofort hatte sie Katastrophenwitterung und fühlte, daß der Arzt heute besonders empfänglich war. Sie nutzte den Augenblick, als er im Kittel vor ihr stand, während Maria im Bad ihre Haare richtete.

»Wenn man die Weiberleut’ wie Geißen spürt, und wenn sie Köpfe tragen wie die Besen« sagte sie schnell hinein in seine Lethargie: »Und wenn die Rabenköpf’ aussterben und auf den Straßen die weißen Gänse kommen, dann kommt die andere Zeit!«

»Die ist schon da!« rettete ihn Maria.

»Suchen Sie doch mal die Karte der Frau Blauberger. Sie ist letzte Nacht verstorben, der Totenschein muß vorbereitet werden!«

Frau Riehl reagierte sofort, denn vor der Frau des Arztes hatte sie einen fast unterwürfigen Respekt.

»Wenn das Abräumen durch den Herrgott vorüber ist, wird den Menschen der Gesang eines Vogels wie ein solches Wunder erscheinen, daß sie steh’nbleiben und ihm zuhören!« Sie hatte die Schublade der Kartei aufgezogen und kramte jetzt bei dem Buchstaben S.

»Die Menschen werden eine neue Welt aufbauen: Gott wird sie auf diesem Weg begleiten und führen!«

Jetzt zog sie die Karte heraus und begann, einen Totenschein vorzubereiten.

Was wäre, wenn ich sie, sinnierte Marin, nur als Geschlechtswesen genösse: Ihre immer noch weiche, zarte Haut, ihre straffen Brüste, ihre muskulösen Schenkel und den Spalt dazwischen mit der seidenweichen, feuchten Schleimhaut, was wäre also, wenn Maria einen Unfall hätte, und sie käme zu mir zurück: häßlich, verstümmelt und hilflos! Könnte ich sie dann genauso weiterlieben? Genauso treu und stark und zugewandt? Könnte ich das, was in diesem so reizvollen Körper lebt und in ihm zart ist und aus ihm denkt und spricht und gutwillig und zuverlässig und liebenswert immer an meiner Seite steht, könnte ich dieses Wesen, das ihren Körper bewegt oder stillstehen läßt, genauso lieben wie vorher? Er hatte nach den Karteikarten der Patienten gegriffen, die im Wartezimmer ihre Köpfe reckten.

»Guten Tag, Herr Doktor!«, sagte Conny. Mit einem Blick sah er sie im Unglück.

»Was hast du, Conny? Kann ich helfen?«

»Mein Mann: Er ist ein Wahnsinniger!«

Sie weinte ungehemmt und so laut, daß Marin aufstand und die zweite Doppeltüre schloß. Dann war er neben ihr und nahm sie in den Arm und strich ihr lange und beruhigend über das Haar. Er hatte vor Jahren zur Ehe mit ihrem langjährigen Freund geraten, weil sie schon 29 Jahre war und einen ganz starken Kinderwunsch besaß. Sie hatte zwei Kinder bekommen, und Karlheinz, ein aufbrausender Dickkopf, war in die Verantwortung willig und gut hineingewachsen. Last und Freuden der Familie hatte er angenommen. Das jähzornige Wesen aber war ihm geblieben, als wolle er periodisch zur Vollmondzeit, zurück in das leichtfertige, ungebundene Junggesellentum entfliehen. Dann blieb er jede Nacht bis über die Sperrstunde im Grünen Eck, seiner Stammkneipe, und trank. Conny Niklisch kannte ihn gut und ließ ihn gewähren, weil sie wußte, er würde umkehren schon nach wenigen Tagen des Exzesses, um sein Kreuz, wie sie es scherzhaft nennen konnte, wieder ohne Murren auf sich zu nehmen. So hatten sie trotzdem einen verträglichen Rhythmus gefunden, der die Familie zusammenhielt.

»Dieses Mal war’s so schlimm wie nie!«, schluchzte sie.

»Drei Tage und drei Nächte ist er ausgeblieben! Kein Anruf, kein Lebenszeichen, nichts! Im Grünen Eck war er auch nicht! Ich wollte schon am Montagmorgen eine Vermißtenmeldung aufgeben: Da stand er plötzlich im Zimmer. Ich sag Ihnen, wie ein Penner! Wie ein stinkender, unrasierter, glasäugiger Penner vom Hauptbahnhof! Das war nicht mehr mein Karlheinz: Das war ein Alptraum von einem Mann!« schrie sie verzweifelt und erzürnt. Marin konnte ihn sehen, mit hängenden Schultern, triefäugig und gebeutelt vom schlechten Gewissen, verstunken vom Fusel innen, verpestet von den Brat-, Rauch- und Schnapsgerüchen in seinen Kleidern, die auch sein Bußgang durch die ganze Stadt bis hinaus nach Allach nicht hatten reinigen können.

»Ich habe ihn einfach geschlagen: Ins Gesicht, auf die Brust, überall hin: Ich konnte nicht anders! Er hat uns solche Sorgen gemacht für nichts und wieder nichts! Dieser gottverdammte Hund!« Marin sah ruhig in ihr verheultes Gesicht, in dem die Tränen immer noch aus den Augenwinkeln über die blasse, etwas schwammige Haut flossen.

»Hat er dich betrogen?«

»Natürlich! Ich kenne doch die Weiber! Wenn ein williger Schwanz vorrüberstreicht, wenn ein gespicktes Portemonnaie winkt: Er hat einen halben Monatslohn in drei Tagen auf den Tisch gehauen: Soviel essen und trinken und saufen und huren kann doch nur ein Wahnsinniger, wenn er eine Frau und zwei kleine, süße Kinder zu Hause hat!«

Marin hatte ihren Blutdruck kontrolliert und das Herz angehört: es raste, der Druck war viel zu hoch.

»Das Schlimmste kommt noch!« Jetzt sah sie ihn an mit dem wissenden Blick einer Frau, die nicht nur von der eigenen Lebenszeit belehrt und reif gemacht worden ist, sondern zurückgreift wie selbstverständlich auf die Leidenserfahrung aller Frauen im Geschlechterkampf auf dieser Welt zu allen Zeiten: »Er liebt uns nicht, aber wir lieben ihn!«

»Jetzt gehe ich, und zwar für immer!« brüllte er: »Du schlägst deinen eigenen Ehemann!«

»Ich hasse dich, gab ich ihm zurück. Zum Glück sind die Kleinen im Kindergarten!«

Im Nu war er draußen vor der Garage bei dem Mitsubishi-Jeep, an dem hinten noch die Schleppkette befestigt war. Alles war einfach stehen- und liegengeblieben nach dem Bäumefällen im Garten, so hatte ihn die Hur- und Sauflust wohl im Griff gehabt. Rein ins Auto, Motor an: Ich stand hinten und wollte die Kette abhaken, damit er nirgends hängen bleibt in seiner blinden Wut, aber plötzlich habe ich sie ums eiserne Garagentor geschlungen, so, als wollte ich ihn festhalten und vor einer allerletzten noch größeren Dummheit bewahren! Dann gab er Vollgas und fuhr los! Die Kette am Auto und an der Kette das Garagentor und am eisernen Torrahmen die Wand! Dieser Wahnsinnige hat alles rausgerissen!« Der Arzt mußte lachen, die Conny weinte wieder: »So traurig das ist, jetzt kam er zur Vernunft!« beendete sie ihre Geschichte.

»Habt ihr euch wieder vertragen?« fragte er vorsichtig. Ihr Ausdruck wurde ganz weich. »Habt Ihr euch geliebt danach?«

Conny errötete bis an den Haaransatz. Maria flüsterte durch den Spalt der Seitentüre: »Ihr müßt weitermachen, die Patienten werden unruhig.«

Conny stand erleichtert auf: »Danke, daß Sie mir zugehört haben, mir geht’s jetzt viel besser! Hätte ich nicht mit ihm ins Bett gehen sollen?«

Der Arzt schmunzelte. Da stellte sich die kleine Frau auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß.

Er hastete ins andere Zimmer: »Guten Tag Herr Mahrenschön, was macht die Wunde?« Er beugte sich dicht über die handtellergroße Entzündung, die nach einem Fahrradsturz vereitert war am linken Oberschenkel. »Eine Woche noch, dann ist’s geschafft, Maria, verlängere bitte die Krankschreibung, oder wollen Sie arbeiten gehen?«

»Wie könnte ich?«, grinste Herr Mahrenschön, der Beamter war.

»Das Bein spannt sehr und heilt nur im Liegen«, sagte er bestimmt. »Der Vater Staat braucht mich wirklich nicht!«

»Bitte einen Nebacethin-Salbenverband«, Marin ging zurück ins Sprechzimmer, während Frau Riehl ganz in Schwarz, als trüge sie ewige Trauer, sich an dem Bein zu schaffen machte.

Nun saß er dem jungen Herrn Berger gegenüber, einem Lehrling für Kraftfahrzeugmechanik aus dem neuen Bundesland Sachsen. Er bewohnte, wie viele dieser Lehrlinge »von drüben«, ein kleines Doppelzimmer im Kolpinghaus in der Hanebergstraße. »Der übliche Schnupfen, Herr Doktor!«

»Machen Sie bitte den Mund auf«. Der Kopf des Patienten glühte vom Fieber.

»Sie sollten ins Bett, das ist eine eitrige Angina«. Der Junge schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind nur zu dritt, mein Chef braucht mich! Schreiben Sie mir bitte nur ein Medikament auf.«

Marin schrieb, der Lehrling gefiel ihm sehr. Er dachte an das Gerede über die faulen Drückeberger aus dem Osten, die nur Geld kosten und nicht arbeiten wollen, das oft auch verbunden wurde mit den Worten Betrug, Bereicherung, Kriegsgewinnler. Der Junge dankte für das Rezept und ging aufrecht hinaus. Maria brachte jetzt die Post: Fachzeitschriften, Zeitungen, vor allem Werbung der Pharmaindustrie mit Musteranforderungskarten, dazu die täglichen Berichte aus Krankenhäusern oder von Facharztkollegen über gemeinsame Patienten.

»Leg’s in mein Privatzimmer auf den Schreibtisch, bitte.« Natürlich hatte sie den Posteingang vorsortiert.

Marin starrte hinaus auf den mauerumfriedeten Hinterhof, wo ein dunkelgelbes Weinblatt durch die Luft schwebte und fiel.

»Herr Doktor, kommen Sie bitte!« Frau Riehl wirkte noch schwärzer in diesem sonnenlosen Raum, der erst, wenn die Strahlen nachmittags schräg über die Mauer glänzen an Freundlichkeit gewinnt.

»Eine Spritze bei Frau Rosenberger!«

»Ich komme!«

SINAI

Kapitel 16

»Jetzt ertrage ich die Kopfschmerzen leichter!« grübelte Maria: »Seit ich weiß, daß sie nur Theaterdonner der Natur sind, womit bei vielen Frauen die Wechseljahre auf die innere Bühne treten!«

»Trotzdem will ich mit dir alt werden« antwortete er und las ihr aus dem Sagenbuch der Juden vor:

»Mose weidete die Schafe seines Schwähers Jetro, und er weidete sie vierzig Jahre lang. Es geschah ihnen kein Leid vor den wilden Tieren des Feldes. Er war Hirte bis er an den Berg Horeb kam. Hier aber offenbarte sich der Herr ihm in einer feurigen Flamme aus dem Busch. Mose sah wie der Busch brannte und dennoch vom Feuer nicht verzehrt wurde. Erstaunt

über den seltsamen Anblick sprach er in seinem Herzen: Wie herrlich ist das alles! Ich will dorthin und das große Gesicht beschauen, warum der Busch nicht verbrennt. Aber da rief der Herr: Mose, Mose, bleib, wo du bist, denn daselbst werde ich dereinst Israel die Lehre geben. Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, darauf du stehst, ist heilig. Wie der Dornbusch durch seine Stacheln der grausamste Baum ist, weil ein Vogel, der in ihm Zuflucht sucht, mit zerfetzten Flügeln herauskommt: Also war auch die Knechtschaft Ägyptens härter und peinvoller als jemals irgendeine …!«

»Mose hätte als ägyptischer Fürstensohn ein Leben in Reichtum und Macht führen können«, Maria griff nach dem Wasserglas. Beide hörten sie dann den Wintersturm aus dem Innenhof gegen die Glasscheibe drücken. Die fünf hohen Tannen knarzten unter der Schneelast auf ihren Zweigen.

»Moses zog es vor, mit seinem Volk zu leiden und den Willen seines Gottes zu tun: Eine fast undenkbare Haltung heutzutage: Verführung, nicht Vorbildlichkeit, das ist es, was den Völkern zu oft geschieht in unserem Jahrhundert! Das Gute vergißt man. An das Böse gewöhnt man sich. Das ist die Moral der Geschichte.«

Marin hörte ein Schlurfen draußen auf dem langen, notbeleuchteten Gang und wußte, es waren die nackten Füße der alten Frau, die rastlos über das kalte Linoleum sich bewegten, weil die Verwirrte nicht mehr zurückfand. Ihr Gedächtnis war zerstört von Alter und Krankheit, und sie war bedingungslos auf Hilfe angewiesen. Marin ging hinaus und sah sie im Nachthemd stehen, klein und verloren, mit Augen, die ihn gar nicht anblickten, weil die Pupillen wie gekocht erschienen, überzogen von einer weißen Haut, hinter die sich ihre Existenz in vielleicht ewige Dunkelheit zurückgezogen hatte.

»Kommen Sie, Frau Roth!« Er nahm sie bei der Hand und führte sie in ihr Zimmer zurück.

»Bitte, wieviel Uhr ist es?«

»Zehn Uhr!«

»Ist es Tag oder Nacht?« Sie tastete zum Bett.

»Es ist Nacht. Sie sollten jetzt schnell schlafen!«

»Gott segne Sie!«

Maria hatte Schuberts Winterreise aufgelegt, Marin hörte den Bariton:

»Die kalten Winde bliesen ihm grad ins Angesicht / Der Hut flog ihm vom Kopfe, er wendete sich nicht.«

»Du siehst, wir dürfen keine Pflegefälle werden!«

Sie stellte die Musik leiser: »Wen die Götter lieben, den lassen sie gesegnet sterben, vielleicht sogar zusammen wie Philemon und Baucis!«

»Wir sollten genau am Heiligabend eine Kamelreise zum Berg Sinai buchen und ihn so besteigen, daß wir am Weihnachtsmorgen die Sonne über der Wüste erstrahlen sehen: Das ist dein Herzenswunsch, so werden wir’s tun!«

Sie saß auf der Sessellehne und küßte ihn auf den Mund. Es war eine Zartheit in diesem Kuß, die ihm fast den Atem nahm. Er streichelte ihr leicht ergrautes Haar und den Hals, an dem die Haut weich war und ohne Alter.

Das Telefon hatte so leise geklingelt, daß nur Maria es hörte.

»Geh schnell, es hat schon dreimal geläutet …«

»Ja, bitte, Marin…«

»Petra Wittich, ich bin die Freundin von Bernd Koursel, Ihrem Patienten …«

»Ich habe Schweigepflicht …«

»Sie sollen ja schweigen, aber lassen Sie mich sprechen, es ist wichtig!«

«Was ist?«

»Der Bernd sitzt auf dem Bürgersteig in seiner Unterhose und hat seine Lieblingsschallplatten und Bücher auf den Steinen ausgebreitet, dazu den goldenen Schmuck seiner Mutter und seine Cartieruhr im Wert von 18.000 Mark! Kommt herbei, ihr Lieben, kommt nur und nehmt! Wenn den Menschen sein Auge stört, so gehe er hin und reiße es aus! Das ganze kostet nicht zweihundert und auch nicht einhundert oder fünfzig Mark, nein! Dreißig deutsche Mark nur! Zum ersten, zum zweiten und zum dritten! Sie haben den Zuschlag! Zahlen Sie und nehmen Sie’s hin, denn eher geht ein Kamel durch’s Nadelöhr, als der Reiche in den Himmel! Er hat alles, was er besaß an einen Penner verkauft, für dreißig Mark. Nun ist er ruiniert! Sie müssen etwas tun, Herr Doktor! Kommen Sie schnell! Jetzt steht er auf dem Bürgersteig und predigt!«

»Warten Sie dort auf mich, in zehn Minuten bin ich da!«

Schon hatte Marin den Mantel übergeworfen und rannte hinaus. »Wann bist du zurück?« Maria hatte ihm vergeblich nachgerufen.

In der Ainmiller Straße war eine beträchtliche Menschenmenge versammelt. Er zwängte sich hindurch mit seiner Arzttasche und sah auf dem Bürgersteig seinen Patienten nackt im Slip unter dem weit geöffneten Wintermantel aus blauem Loden. Seine Handflächen waren in Kopfhöhe gegen die Menschen gekehrt, er predigte laut:

»Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß er vom Teufel versucht würde. Da er aber vierzig Tage und Nächte gefastet hatte, hungerte ihn, und der Teufel trat zu

ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine (jetzt wies er auf das Kopfsteinpflaster der Straße) Brot werden!«

»Dem sind alle Sicherungen durchgeknallt!«, rief jemand aus der Menge: »Er denkt wahrhaftig, er sei Christus selbst!«

Aber Herr Koursel fuhr unbeirrt fort: »Christus antwortete und sprach: Es steht geschrieben, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht!«

»Der Geist spricht aus ihm!«, rief eine alte Frau und kniete nieder mit gefalteten Händen.

»Da führte ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinnen des Tempels und sprach: Bist du Gottes Sohn, so springe hinab, denn es steht geschrieben: Seine Engel werden dich auf Händen tragen, auf daß dein Fuß nicht an einen Stein stößt! Jesus aber sprach: Es steht geschrieben, du sollst Gott deinen Herrn, nicht versuchen! Da endlich führte ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu Jesus: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest!«

Jetzt beugte sich Bernd Koursel zu der knienden Frau, die seine nackten Füße küssen wollte und half ihr auf und sagte: »Da sprach Jesus zum Versucher: Heb dich hinweg von mir Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn und ihm allein dienen! Da verließ ihn der Teufel, und siehe, die Engel traten zu ihm und dienten ihm!«

»Dienen werden wir dir nicht! Du Rattenfänger!« rief ein bulliger Mann in der vordersten Reihe: »Ich werde dich bedienen! Und das nicht zu knapp!« Schon hatte er seinen dunklen Knotenstock erhoben, an dem Messingschilder der Wanderziele blitzten und zog dem Halbnackten ein paar kräftige Hiebe über Hintern und Rücken. Bernd Koursel blieb reglos und lächelte. »Schlägt dich einer auf die linke Wange, so halte ihm die rechte auch noch hin: Bitte schön!« Er ließ seinen Mantel vom Körper gleiten, den er seinem Peiniger nun ganz darbot. Der wurde puterrot im Gesicht und schrie: »Dir besorge ich’s jetzt!« Marin hatte die Menschenmenge durchquert, gerade noch rechtzeitig, um den erhobenen Knotenstock mit seinem Arm abzublocken.

»Halt, ich bin sein Arzt, dieser Mann ist krank!«

Bernd Koursel lächelte ihm zu und sagte wie am Rande: »Nicht ich bin krank, Ihre Heiligkeit: Dieser Mensch hier ist krank! Er prügelt die Hand, die ihm helfen will!« Der ultramännliche Steifgrobe blickte herausfordernd zuerst den Arzt an und dann in die Menschenrunde, die näher aufgerückt war.

Die alte Frau, die zuvor gekniet hatte, war jetzt schützend mit dem Lodenmantel vor Herrn Koursel getreten und bedeckte seine Blöße.

»Laßt ihn in Frieden: Selig sind, die da geistig arm sind!« rief sie laut: »Seid ihr denn alle von Gott verlassen! Steht dabei und gafft!«

Diese kosmische Winterdunkelheit, die sie alle umfror, schien besonders den Rohling gepackt zu haben: Sein Stock war über dem Arm des Arztes einfach in der eiskalten Luft stehengeblieben, als seien Mann und Stock erstarrt unter einem klaren Himmel, in dem die Milchstraße und alle Sternbilder hell leuchteten an dem Stecknadelkopf Erde vorbei in viele andere Fernen.

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DER KRÄHENBAUM

Vielleicht glaubte sie uns ahnungslos in den Betten, während Marin und ich doch seit geraumer Frist am Fenster im Zugwind froren und in den Hof hinunterspähten. Sorglos schlief Gesa hinter ihrem Puppengesicht, als ein Motor vom Amöneburger Tor her dröhnte, wo die Straße nach Marburg abzweigt, als das Geräusch unter Fehlzündungen gegen den Gefangenenberg hinaufwuchs und auf dem Kopfsteinpflaster mit Karosseriegeklapper vermischt sekundenlang am Eisentor des Herrenhauses hängenblieb. Dann war es still. Dampf kräuselte von den Kühlrippen. Spedition – Güterfernverkehr – Georg Leuthold.

Und obwohl Nikolaus Prediger ausstieg, zur Stalltür ging und Getreidesäcke anschleppte, wußten wir genau, daß es nur der alte Leuthold selbst sein konnte, dem dieser wachsfarbene Gesichtsfleck hinter der beschlagenen Scheibe zugehörte, dem die Zigarre im Führerhäuschen Funken sprühte. Seine Söhne, Gernulf und Peter, die uns auf ihren Fahrten mitgenommen hatten, moderten unter polnischer Erde, was ihn, den Sechzigjährigen, veranlaßt hatte, seinem Firmenschild Güternah das Wörtchen Fernverkehr hinzuzufügen, wohl, weil er’s nicht ertragen konnte, allein zu sein mit seinem nachdenklichen Verstand in einem Haus, das eigentlich auch von seinen Söhnen und deren Frauen bewohnt sein sollte.

Plötzlich war es sehr still. Der bucklige Hanomag hätte tagelang schon dort stehen können, festgeeist neben der rissigen Mauer, hätten wir ihn nicht unter tiefziehenden Schneewolken anrollen sehn, wären wir nicht sicher gewesen, daß dieser Fleck wirklich sein Gesicht war, das wir uns sogar in Einzelzügen vorstellen konnten. Und weil wir unentwegt auf die Haustür unter uns geblickt hatten, sahen wir plötzlich die Gestalt

vermummt im Hof stehen neben dem offenen Stall, hinter ihr Frau Marin, klein und zerbrechlich im Dämmerlicht. Nicht einen Mucks gaben wir von uns. Wir ahnten die Gefährlichkeit dieses Unternehmens und sollten wohl eigentlich schlafen, um nicht zu sehen, was wir wahrgenommen hatten, um nicht zu hören und zu sehen, was uns traurig machte und hilflos.

Unversehens drängelte Gesa mit Schultern, Kopf und Armen, bis wir den Sichtspalt freigegeben hatten. Und weil die Fensterbank zu hoch war und ihr Puppenkopf nur an die Holzkante emporreichte, sie aber keine Ruhe gab: »Laßt mich, laßt mich, was is los da unten!«, griffen wir ihr rechts und links unter die Achseln und hoben sie hoch. »Gabriel, Gabriel! Nein. Nein.« Strampelte und trat so heftig, daß sie unserem Griff entglitt, unter vier Händen wegtauchen konnte und im Nachthemd die Treppe runterflitzte. Wir sahen Gabriel einsteigen, Nikolaus Prediger die Autotür zuwerfen, hörten, wie der alte Leuthold den Motor kommen ließ, und sahen dann Gesa mit fliegenden Zöpfen an Frau Marin vorbeiwischen und x-beinig dem Wagen nachjagen.

Und sie hatten vielleicht schon Allendorf umfahren, da zitterten wir immer noch am Fenster des Obergeschosses. Werflo erwachte. Erste Lichter glühten auf.

»Also Gabriel is ’n Juud und hat Schuld, daß Deutschland in den Krieg gegangen ist«, sagte ich.

In der Halle waren Frauenstimmen laut geworden, die redeten auf Klein Gesa ein.

»Gabriel ist und bleibt ein Marin«, sagte er leise. Und dann spürten wir das Schweigen im Haus, das unsre Kehlen

schnürte.

Marin nahm das Tesching vom Gewehrständer, klemmte den Lauf zwischen die gußeisernen Heizungsrippen und warf sich gegen den Schaft. Seinen Kopf lehnte er gegen den Fensterrahmen, und ich sah, wie die Lippen blutleer wurden, sah auch Wangen und Stirn eine schockweiße Blässe annehmen.

»Marin, Marin, bist du krank?«

»Ich habe Angst, daß ihm etwas passieren könnte.«

Dann rüttelte er heftig meine Schultern.

»Was immer auch geschehen wird, die Nacht ist zum Schlafen da, verstehst du! Wir haben nichts gesehen und nichts gehört!«

Vielleicht waren sie jetzt in Neustadt oder schon ein gutes Stück darüber hinaus. Sicherlich hat es, wo immer sie fuhren im olivgrünen Hanomag, gleichzeitig zu Schneien begonnen.

Aus schweren Wolken flockte es in die Windstille und fiel auf Werflos Dächer und Straßen, auf die feuchte Erde herab.

Ich dachte daran, daß man jetzt die Radspuren überdeutlich

im Schnee verfolgen könne, kurze Zeit nur, dann würde die Landschaft weiß sein, unberührt weiß.

Marin legte mir den Arm um den Hals: »Wie still sie fallen, die Flocken!«

Da war seine Mutter hinter uns getreten, streichelte

unsere Köpfe und sagte: »Ja, beinahe lautlos fällt er aus

dem Universum, der Schnee, da hast du recht, mein Junge. Jetzt aber schnell in die Betten! Es ist noch viel zu früh für euch!«

Später, am selben Morgen, es war Sonntag, und wir setzten uns schon nicht mehr in der kalten Eingangshalle zum Frühstück nieder, sondern drängelten uns am Küchentisch über Weizenbrot und Grieben, da spürte ich: Das Schweigen zwischen diesen dicken Mauern war noch beklemmender geworden. Und nicht nur das: Die Frauen saßen geduckt, während wir einspeichelten, kauten und runterschlangen, saßen fast reglos, während plötzlich Schneesturm gegen die Scheibe tobte und Eiskristalle zurückließ an den Kitträndern, die auswuchsen zu zarten Blüten ohne Duft. Die Frauen duckten sich unter ihren schwarzen, schafwollenen Umhängen, froren und hatten Angst.

Plötzlich standen meine Kiefer still. Da war etwas in mir, das ich nicht kannte. Mein Körper hatte sich kerzengerade aufgerichtet, ich spürte einen Schmerz, einen Krampf in meiner Brust und dachte: Mein Gott, was sitzt du hier! Raus, schnell raus auf Vetter Schorschs Wiese! Dort passiert etwas, und du bist nicht dabei! Wie unter Zwang hetzte ich aus dem Zimmer, riß meine Tuchjacke vom Haken, hörte meine Mutter rufen: »Komm zurück, Michael, der Schneesturm!«, nahm die Steintreppe in großen Sprüngen, Schnee in den Augen, kalt, eiskalt auf meinem Gesicht, rannte über den Hof, schlitterte den Berg neben der Schebitzschen Scheune hinunter, umrundete den Teich vor dem Schleusenrechen, hörte Turbinen schnurren und hatte die Stadtmauer erreicht.

Wiesen! Meine weiten, vertrauten Wiesen!

Naß glänzte der hohe Eichbaum, und das Erlgebüsch stand schwarz und dicht dahinter im Wirbel der Flocken. Nichts. Nichts geschah. Nichts, was Spuren hinterlassen hätte, war geschehen!

Schon hatte ich mich heimwärts gewandt, als ein Windstoß vom Kirchberg herunterdrückte und meinen Kopf noch einmal gegen die Wiesen zwang. Und da sah ich, zwischen verkniffenen Lidern, wie aus dem Schneechaos der Erlenwall in Bewegung kam, mal vorrückte gegen die Stadtmauer und mich, mal zurückwich an die Grenze des Sichtbaren.

Ich wagte nicht zu atmen. Gespenster, Gespenster!

Da schlug der Wind um, drückte mich durch die Stadtmauernische, wurde zum hilfreichen Rückenwind, während ich haste was kannste, den Berg, die Steintreppe hoch, aus diesem grauenhaften Sturm heraus in den Schutz der dämmrigen Halle und von dort in die Marinsche Küche flüchtete.

»Die Erlen sind gegen das Dorf gerückt!« keuchte ich und hörte meine Mutter sagen: »Auch das noch, der Junge ist verrückt geworden!«

Und ich schwor Stein und Bein und beschrieb, was ich gesehen hatte. Da lachte Frau Marin zum erstenmal seit langer Zeit: »Wind und Schnee«, sagte sie sanft, »haben dir ein Trugbild vorgegaukelt.«

»Trugbild, Trugbild vorgaukelt«, äffte Gesa nach und spielte Rumpelstilzchen. »Der Junge ist verrückt geworden!«

»Still! Willst du wohl still sein, du Irrwisch!« befahl Frau Thomsen, und meine Mutter sagte plötzlich:

»Ich wünscht, ich könnt ’nen Sprung nach Kassel tun und sehn, ob alles in Ordnung ist im Haus."

Evakuiert waren wir schon seit fast zwei Jahren, auf den Rat und ausdrücklichen Wunsch meines Vaters. »Ihr kehrt nicht in die Stadt zurück, bevor dieser Krieg ein Ende genommen hat und ich höchstpersönlich kommen werde, euch abzuholen!«

Kommen würde er nicht mehr, aber Mutter hielt sich an seine Worte.

Marin stellte den Drahtfunk an, und wir hörten die Takte der Eroica, dann die Stimme des Nachrichtensprechers:

In Stalingrad schob sich der Feind von allen Seiten an die deutschen Abwehrstellungen heran …

Obwohl wir kaum etwas vom wirklichen Krieg an den Fronten verstanden, war uns doch klar, daß die Abwehr nicht gleichbedeutend sein konnte mit Sieg. Um so mehr vermißten wir Gabriels Sachkenntnis, mit klarer Stimme vorgetragen, die uns in manchem aufzuklären und zu beruhigen gewußt hatte: »Laß die nur reden, der General ist und bleibt unbesiegbar«, so klang’s jetzt in meinem Kopf nach.

»Schau nur!« Ich drehte mich um und blickte zum Fenster und sah die Sonne hinter der Amöneburg hervorbrechen.

Es stürmte nicht mehr, und die Ebene lag grell und weiß im Licht zwischen den drei schwarzen Flußkokarden. »Komm«, sagte da Marin, »gehen wir Vetter Schorsch besuchen!«

»Die Märzlämmer streicheln«, rief Gesa, und los ging’s, zur Pforte hinaus auf die Hintergasse, durch Pulverschnee an der Dorfmauer entlang, aus deren Ritzen Goldruten wuchsen. Die Wohra gluckste und rauschte, als wir an die Stelle kamen, wo der Ölmühlgraben abzweigt, wo der Mauerdurchbruch zum Ahnapark uns den Weg freigab ins Uferdickicht. Weiter unten am Fluß standen die Frauen mit leeren oder vollen Säcken, frierend den Schnee zertrampelnd, und wir sahen die lange Reihe der Blechkannen vorm Mühleneingang, in denen sie das kostbare Bucheckernöl heimschleppen würden. Die Eisenpforte klemmte. Unsre Schuhe drückten tiefe Spuren, die quer über den Parkrasen hinweg zum Bismarckdenkmal führten. Marin blieb stehn und las:

»Neunzehnhundertvierzehn bis achtzehn, unseren gefallenen Helden in Angedenken. Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, den Frieden mahnend.«

Zwischen gekreuzten Schwertern, unter der Keilschrift und dem Lorbeerkranz aus Eisen am Fuß des hohen Denkmals, waren eingraviert in langen, engen Reihen die Namen, Ränge und Todesdaten der Helden, viele verwittert, manche schneeverkrustet. Marin stocherte und rieb und kratzte einen Namen frei: Friedrich Ferdinand Marin 1900 – 1917, Fahnenjunker, gefallen zu Verdun. »Mein Onkel«, sagte er. »Er wäre ein Cellovirtuose geworden, wenn nicht …«, und ich dachte: Feigling, du fürchtest den Tod, auch wenn’s ein Heldentod sein könnte! und sah die Leuchtfarben an Schierbaums Milchladen am Markt, die nachts weithin sichtbare Flammenschrift, sah Pinkus den gelben Stern tragen, trotzig, wortlos und stolz, genau wie Samuel und Balthasar, die alle samt Familien über Nacht verschwunden waren. Wer läßt schon einen gutgehenden Milchladen, ein Juweliergeschäft so einfach im Stich? Aber auch wir hatten unser Kassler Haus Hals über Kopf verlassen, als die ersten Bomben auf Hamburg fielen. Wissen Sie denn nicht, daß man sie tötet zu Tausenden, dachte ich plötzlich und hörte erneut diesen tierhaften Schrei, während meine Füße hinter Marin und Gesa schwarze, wäßrige Tapsen zurückließen.

Da hatten wir das Parktor erreicht und sahen am östlichen Dorfausgang an der Kirchhainer Straße Vetter Schorschs Einsiedelei liegen.

Aus dem Dachfenster, an einem Stock, flatterte die Hakenkreuzfahne im Wind, flatterte dort wie eh und je, seit wir ins Dorf gekommen waren, als hätte er sie einmal aufgesteckt und dann vergessen einzuholen. Vor dem Haus dampfte der Misthaufen, roch angenehm und scharf nach frischem, noch nicht gefrorenem Bockschiß, Jauche sickerte aus der Betonumrandung und hatte den Schnee grün geätzt gegen scharfrandiges Weiß.

»Määäääääähhh, määäääääääääääähh«, klang es um die Hausecke.

»Märzlämmchen streicheln«, rief Klein Gesa. Um die Ecke wischte sie mit wippenden Zöpfen zum Lämmerstall, und wir sahen sie dann Sekunden später, schlohweiß im Gesicht, ganz dicht an die gekalkte Wand gedrückt. Denn unter seinem breitrandigen Schlapphut mit Querkniff stand Vetter Schorsch und arbeitete heftig. Mit den Hinterläufen angenagelt, hing das Märzlamm am Pflock, fleischrot bis zum Bauch, und schrie.

»Schlachttag«, sagte der Patte, »feine Spürnasen habt ihr Kinder, ihr wißt, wo’s was zu fressen gibt in diesen schlechten Zeiten. Komm, Günther, gib mir mal die Feile rüber!«

Und er schlug zweimal kurz und trocken ins Genick:

»Määääääääähh«, das Tier zuckte, schwieg und tropfte aus dem Maul.

»So geht die Haut am besten runter, wenn der Körper mithilft«, sagte er und lächelte, »merkt’s euch für später!«

Ein schneller Schnitt in Runenform, den Bauch hinunter kopfwärts, rechter und linker Vorderlauf, ein scharfer Ruck, und das Lamm, dem durch die Kehle er nun die Messerschneide zog, hing nackt und pulste Blut in den glitzernden Schnee.

»Puuuh.«

Ich drehte mich um und sah Marin mit Gesa hinter der Querwand des Gehöfts verschwinden.

»Noch richtige Kinder, die zwei«, sagte der Patte und schmunzelte mir zu. »Ich bin zu alt für den Krieg, aber die Nerven, glaub mir, die hätt’ ich noch! Der Günther, der hat sie nicht. Und ist der Sohn des leibhaftigen Generals. Hier«, sagte er und trennte geschickt, am Gelenk sägend, eine Keule ab vom Lamm, wickelte sie in Leinentuch und übergab sie mir:

»Bring das der Generalin von einem Kämpfer der Heimatfront mit besten Grüßen! Das Tuch soll sie mir zurückschicken, Leinen ist knapp!«

Ich nahm die Keule, dankte und rannte den beiden nach.

DER KRÄHENBAUM

Kapitel 7

Unter hochstämmigen Kastanien, gegen den Himmel geschnitten, hetzte ich die Straße entlang. Warm spürte ich das Fleisch durch Jacke und Hemd.

»Marin! Gesa!«

Öd lag der Ahnapark hinter dem Torgitter. Schnee stäubte von den Ästen und wirbelte auf im Wind, der über die Rabatten strich.

»Marin, Marin, wo bist du?«

Da sah ich die Sonnenkugel auf der Spitze des Munitionsfabrikschlotes, erschrak und sah in diesem kalten, fast waagrecht schwebenden Licht die Dunkelheit einfallen, roch Blut und hetzte den Häuserschatten entgegen. Die Keule fiel. Wie gelähmt stand ich und konnte das tote Fleisch nicht aufheben.

»Ei, ei, was liegt denn da so herrenlos im Schnee!«

Aus dem Hinterausgang von Stürmers Kohlenhandlung waren sie herausgetreten, Pitter Ficke und Dieter Flimm.

»Ich bin gestolpert!«

Schnell griff ich nach dem Leinensack.

»Ei, ei, sieh an, dunkle Flecke«, und schnappte danach, der Pitter:

»Richtiges Blut von richtigem Fleisch!« sagte Dieter Flimm und schnüffelte und sagte: »Lammfleisch, und das mitten im Krieg; Junge, Junge, haben wir drei ein Glück!« und entriß mir die Keule und sagte: »Gut und gerne fünf Pfund Fleisch, das macht zweieinhalb für Pitter und zweieinhalb für mich, kaum zu fassen, Kleiner, unser Glück!«

»Na, los, hau ab«, sagte Pitter Ficke und spielte mir dem

HJ-Dolch: »Mutter will die Kinder zählen!«

»Ich will das Fleisch!«

»Es gehört der Generalin«, widersprach ich und wäre am liebsten losgerannt, hinein in die schützende, von keinen Lampen erhellte Dunkelheit.

»Zu der kommen wir morgen«, schrie Dieter Flimm:

»Mein Vater weiß Bescheid!«

»Hepp!«

Die Keule schwang hoch und landete klatschend in Pitters Händen.

»Hepp!« schrie Pitter, und sie rannten werfend, auffangend, hepp, hepp, hepp, die Straße hinunter. Im Schnee stand ich und heulte. Dann spürte ich die Kälte und den eisigen Wind, der an der Stadtmauer entlangpfiff, setzte mich in Bewegung und ging am schmiedeeisernen Eingangstor, an der Schebitzschen Scheune vorbei, wo im Kuhstall nebendran das Petroleumlicht tanzte.

Dann stand ich in der Nacht, draußen an der Wohra, und sah die dunklen Wiesen und rechts die vier Wachtürme zwischen dem Stacheldraht im Stechlicht der Scheinwerfer, das drüben am Roten Grund durch die Erlenbüsche blitzte.

Die Wohra saugte Uferschlamm. Ich lehnte mich gegen die Mauer, schloß die Augen und dachte: Einfach so stehnbleiben, nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken: Das Fleisch hast du dir nehmen lassen, und spürte dann, daß meine Beine bis über die Knie herauf kalt waren, wie abgestorben. Da blickte ich gegen das Schwarzblau mit vielen Sternen, großen und kleinen, leuchtenden und blassen, und je länger ich hinsah, um so weiter fort rückten sie, und ich sah die Milchstraße und dahinter wieder Sterne schimmern, dünn und zerbrechlich im All. Wie klar und weit, dachte ich, wenn doch nur Friede wäre ... Und da hörte ich das Schnarren und war schon losgerannt, als der Heulton auf und ab schwang. Fliegeralarm! Die Sirene auf dem Rathausturm. Die wenigen Lichter waren weggeputzt. Ich rannte durch die erzwungene Dorfdunkelheit unter einem Winterhimmel, von dem herab plötzlich Gefahr drohte. Die Sirene brach ab, meine Lungen stampften, als ich vor der Stahltür des Luftschutzkellers gegen jemand stieß, der in der Dunkelheit gewartet hatte.

»Gott sei Dank!« sagte Mutter: »Was hast du mich in Schrecken versetzt, Junge!«

Eilig schob sie mich gegen die Basalttreppe, die, aus Fels gehauen, steil abwärts führte; oben verriegelte sie die schwere Tür.

Im Petroleumlicht hockten wir alle auf Feldpritschen, die Lampe flackerte in der Eisluft, die aus dem Entlüftungsschacht nach unten strich, Schattenspiele hüpften, die knochenweißen Felsblockwände schwitzten und begannen, je länger ich hinsah, zu verschwimmen und mit den Schatten zu tanzen. Klein Gesa, ins Mollige (ein Tuch aus Angorawolle) gewickelt, schlief zufrieden auf ihrer Mutter Schoß. Wir anderen warteten vornübergebeugt, die Unterarme auf den Schenkeln, die Köpfe gegen den Luftschacht geneigt. Warten, warten! Das Knacken eines Pritschenholmes ließ uns heftig zusammenzucken. Und wenn dann endlich einer von uns, nein, alle gleichzeitig, dieses ganz entfernte Grollen gehört hatten, das sehr schnell zum Brummen wurde, durchbohrt vielleicht von scharfem Sirren, dann wußten wir und hielten den Atem an: Jetzt ist sie über Werflo, die wilde Jagd der englischen Bombergeschwader, in tausend Meter Höhe am Winterhimmel, unterflogen und umspielt von den wendigen Mosquitojägern mit Scharfschützen hinter den Bord-MGs. Nichts geschah. Die Sirene entwarnte, und wir stiegen empor in die klare, kalte Winternacht, in die klammen Betten. Sofort schlief ich ein, erlebte eine traumhafte Verwandlung.

Marin sprach: »denn weißt du, daß diese reise, die vor dem schmiedeeisernen tor unsres hauses in werflo auf dem zerrissenen

polstersitz des hanomags an einem graugetönten, kurz darauf

eingeschneiten oktobermorgen begann, daß diese reise ihn auf nächtlichen schleichwegen durch halb deutschland führte, ehe sie abbrach irgendwo an der nordseeküste in einer friesischen fischerhütte ...«

»woher weißt du das?« wollte ich rufen und wollte auf, vielleicht ihm entgegenspringen, und sah mich sitzen, traumgebannt, während des alten leutholds hanomag draußen vor dem fenster zwischen dünen stand. »... abbrach, um wenige tage später mit erschreckender endgültigkeit zu vollziehen, was er, gabriel, in wüstem schlaf mit zerfetzten fäusten gegen die hüttenwände getrommelt hatte: es wird geschehen, sie werden irgend etwas mit mir tun. und rief: vater, vater, wo bist du, und fiel zurück auf

seegraskissen und hörte und fühlte wind und das herrenhaus und die wiesen und den fluß und lächelte vielleicht im schlaf und schlief so lange, bis sie ihn wachrüttelten, derbe fäuste, und zum strand hinunterschafften. diesmal war es nicht das windgeschützte führerhäuschen, das stoppelige gesicht des alten neben ihm am steuerrad, das er kannte und liebengelernt hatte, diesmal war es ein fischkutter, der nach tang roch und salzheringen oder nach der ausdünstung dreier männer in ölzeug, die den motor anwarfen, die positionslichter löschten und den schmuck seiner nichtmehrmutter in empfang nahmen ...«

wie hinter dickem glas sah ich leutholds gesicht, seine schlohweißen haare, blaß und fahl und fahl und blaß, ausgezehrt vom weißen sand. und dann schwankte der sessel unter mir, wie planken über den wassern schaukeln, haare, nase, haut traten in die dunkelheit, die zwischen strand und meer und schilf und strand emporwuchs, bis nur mehr ein wesenloser, irisierender fleck jenseits der wasser übrigblieb.

auf einem alten segel kauerte gabriel im gezeitenschlag, spürte, wie das boot stetig vorwärtszog, ohne daß sich die sterne über ihm auch nur um ein geringstes sichtbar bewegt hätten ... nein! nein!

»Wach auf, Michael, wach auf!« sagte Marin und rüttelte mich. Ich schreckte hoch und sah draußen vor dem Fenster eine weiße schimmernde Schneenacht.

»Schau mal raus!«

Wir öffneten das Fenster weit, und ich sah, kurz nach Mitternacht, einen blutroten Sonnenuntergangshimmel und hörte ein Brausen wie von fernem, gewaltigem Sturm.

Da war auch Gesa wieder zwischen uns:

»Laßt mich! Laßt mich, was gibt’s zu sehn?«

Und wieder hoben wir sie hoch, sie schaute gen Norden, wurde ganz still und sagte plötzlich:

»Wie schön, der Himmel, schau nur, der Himmel brennt! Er wärmt die Menschen im kalten Winter.«

Wir ließen sie einfach fallen, und sie war’s zufrieden, kroch zurück unters Federbett und sang ganz leise:

Maikäfer flieg

Dein Vater ist im Krieg

Dein Mutter ist in Pommerland

Pommerland ist abgebrannt

Maikäfer flieg.

»Willst du wohl ruhig sein? Da brennt doch eine ganze Stadt!« sagte Marin

Sofort war sie eingeschlafen.

»Die englischen Feuerteufel bombardieren unsre Städte«, sagte ich. Marin schwieg, und ich dachte: Ob sie wohl nach Werflo kommen werden eines Nachts? Und betete leise: »Lieber Gott, beschütze unsre Brüder und Väter im fernen Rußland und unser Haus und mach, daß die Flak alle Feinde rechtzeitig vom Himmel holt.«

DER KRÄHENBAUM

Kapitel 22

Wir saßen auf den segeltuchbespannten Feldpritschen und horchten nach oben ins Gestein.

Marin war aufgestanden, und ich wußte, jetzt geht er den gewohnten Weg, vorbei am Kohlen- und Kartoffelkeller, die Ganggerade entlang, scharf um die Ecke zu den hinteren Räumen, macht halt vor einem alten Milchschrank, ruft oder klopft. Nein, da traten beiden schon zu uns herein und hatten sich irgendwo im dunklen Gang getroffen.

Leuthold glich einem Bild des Schreckens. Haarig zugewachsen stand er reglos unter der Glühbirne und blickte zuerst irritiert, dann beruhigt in die Runde.

»Ihr braucht keine Angst zu haben, die fliegen vorbei!«

Schon hörten wir dieses ganz entfernte Grollen, das zum Brummen wurde, das sich auflöste in deutlich unterscheidbares Motorengedonner, ziemlich tief in der Luft und dicht über Werflo, und Leuthold sagte: »Die Piloten können eine einzelne, nicht verdunkelte Lampe über viele Kilometer hinweg in ihren Kanzeln sehen, die Nachtjäger mit ihren Bord-MGs könnten einen Menschen in diesem Lichte töten.«

Das Donnern wurde zum Grollen, wir atmeten tief aus und durch, und ich wischte mir den Schweiß von der Stirn.

»Aber irgendwo lassen sie doch die Bomben fallen!« sagte Frau Marin, und wir spürten diese Zerbrechlichkeit in ihrer Stimme und hörten den alten Leuthold antworten: »In Frankfurt vielleicht oder in Gießen, da gibt’s Industrie und Tausende von Menschen. Sie wollen die Rüstung lahmlegen und die Widerstandskraft der Bevölkerung brechen!«

»Der Nazibevölkerung«, verbesserte die Großmutter, »bei uns gibt’s nichts mehr zu brechen. Lieber heute Schluß mit Regime und Krieg als morgen!«

Und Frau Marin sagte: »Ja, Mutter, da hast du recht, daß unser Kellergeist wieder ans Licht kommen kann.«

Leuthold ergriff ihre Hand: »Ich werde Ihnen das nie vergessen. Dieser mörderische Krieg ist in wenigen Wochen zu Ende. Die Ostfront ist gefallen. Die Rote Armee ist im Vormarsch am Don. Roosevelt hat in Casablanca bereits die bedingungslose Ergebung von Hitler gefordert. Bald werden die Alliierten die Feste Europa knacken und uns von der Diktatur befreien! Freiheit! Fast hab ich vergessen, was das ist!«

Großmutter nickte: »Ja, Leuthold, da wirst du noch gebraucht werden, wenn’s soweit ist!«

Die Sirene entwarnte, ich beobachtete meine Mutter, die schwieg und schwieg, zu Boden starrte und mit ihren Fingern knackte. Und sah wieder den alten Leuthold, zugewachsen und abgemagert, hörte noch einmal in der Grabesstille die Worte: Freiheit! Freiheit, und begriff deutlich, daß hier etwas sehr Kostbares gemeint war, von dem ich mir keine Vorstellung machen konnte. Da hörten wir Stimmen draußen im Gang, dicht bei der Tür, und sahen den alten Leuthold hilflos aus den Augen blicken.

Hart schlug Metall gegen Metall. Eine herrische Stimme befahl: »Aufmachen! Geheime Staatspolizei!«

Niemand rührte sich. Die Klinke kippte nach unten und die Tür, weil niemand sie abgeschlossen hatte, ging einfach auf. Herein traten die beiden Ledermäntel, hinter ihnen Ortsgruppenleiter Flimm mit gezogener Pistole, die sich auf die linke Kellerecke ausrichtete mit einem hörbaren Geräusch, das der Entsicherungsbügel verursachte.

»Ich protestiere, das ist Hausfriedensbruch!« rief die Großmutter.

Der erste Ledermantel lachte schallend laut. Paul brüllte: »Ruuuhe!«

Die Ruhe, die jetzt einschlug, gehörte dem alten Leuthold, an dem sich die Blicke der drei Männer festsaugten: Flimms listig wieselnde Augen, die ihn kannten und wiedererkannten unter dem eisgrauen Bartwuchs, die kalt und sachlich blickenden Augen der Gestapomänner.

»Sind sie Georg Leuthold, Fuhrunternehmer aus Werflo?« fragte der Paul Genannte.

»Ja, er ist’s!« schrie Herr Flimm.

Leuthold stand auf: »Ich habe mich wegen des Fliegeralarms in diesen Keller geflüchtet.«

»Wo ist ihr Durchsuchungsbefehl?« Die Großmutter hatte sich schützend vor Leuthold gestellt.

»Ah, unsre kombattante Oma!« sagte der erste Ledermantel und gab ihr einen Faustschlag vor die Brust, der sie quer durch den Raum in die Ecke schleuderte. Sie blieb liegen. Frau Marin war aufgesprungen.

»Wie konnten Sie das tun, sie ist eine alte Frau!«

»Halt, bleiben Sie sitzen, oder ich schieße!«

Der Ortsgruppenleiter hatte den Lauf der Pistole von Leuthold weg gegen Frau Marin geschwenkt.

»Sind Sie die Ehefrau des Generalleutnants Marin?« fragte Paul.

»Ich bin seine Witwe«, hörten wir Frau Marin leise antworten. Da sagte Paul: »Sie sind beide verhaftet! Wegen Fluchtbeihilfe für einen jüdischen Untermenschen, wegen Landesverrats und vorsätzlicher Irreführung! Kommen Sie mit!«

Die Großmutter stöhnte, meine Mutter saß ganz und gar erstarrt, lebloser als eine Stoffpuppe auf ihrer Segeltuchpritsche.

»Das können Sie nicht tun!« sagte der alte Leuthold.

»Sie hat einen Jungen und die alte Frau zu versorgen und mit der ganzen Sache nichts zu tun!«

»Das mußt grade du uns erzählen! Ich habe beide Frauen dieser sauberen Familien Worte sagen hören, die mehr sind als nur Wehrkraftzersetzung oder Landesverrat! Das«, rief Herr Flimm in Wut und zeigte auf Leuthold, Frau Marin und die Großmutter, »sind die Leute, die den Dolchstoß führen in des Volkes und unsres Führers Rücken. Nehmt sie mit, sie sind des Todes!«

Da sahen wir den alten Leuthold sich gegen den Ortsgruppenleiter bewegen, mit einer Langsamkeit, die seine Schritte auszulöschen schien, und hörten ihn sagen: »Du gemeiner, unmenschlicher Leuteschinder, dich bring ich um!« und sahen ihn auf Armeslänge herangerückt und sahen die beiden Gestapomänner, von denen jeder ihn leicht hätte angreifen können, und hörten Herrn Flimm hysterisch rufen: »Bleib stehn, oder ich schieße!«

Laut summte eine Schmeißfliege in der Stille, Leuthold schwebte weiter, und die Schußdetonation nahm uns das Gehör. Der Alte prallte im Rückschlag gegen die Luft und klappte zu Boden. Ich sah meine Mutter den Mund bewegen, sah, wie Marin sich zur Großmutter in die Ecke flüchtete, hörte ganz entfernte Stimmen, die näher kamen, und der erste Ledermantel sagte:

»Das war ein glatter Mordversuch am Ortsgruppenleiter!«

»Herzdurchschuß! Erspart dem Richter die Arbeit und dem Henker den Strick!«, fügte Paul hinzu.

Herr Flimm ließ die Pistole sinken und steckte sie ins Futteral über seiner rechten Gesäßbacke.

»Holen Sie sich Mantel und Waschzeug und kommen Sie mit!«

Frau Marin sah ein letztes Mal in die Runde, schweigend überfordert, vorzeitig grau und alt geworden. »Lebt wohl …«, ihre Stimme war nicht weich, nicht hart, eher knarrend, ohne Selbstmitleid, wie jemand Worte gebraucht, die, noch unausgesprochen, ihm bereits fremd geworden sind. Sie schlug die Augen nieder und ging zwischen den beiden Ledermänteln und hinter dem Ortsgruppenleiter Flimm davon. Da plötzlich, aus einer tiefgreifenden Erstarrung gelöst, sprang meine Mutter auf von ihrer Pritsche und rannte ihnen nach.

Und aus dem dunklen, echotragenden Gewölbegang hörte ich ihre Stimme zurückschallen: »Nein! Nein! Laßt sie hier, die Frau. Das alles habe ich doch gar nicht gewollt … gewollt … gewollt…«

Marin, seinen Kopf der Großmutter in den Schoß gebettet, blickte mich an, und ich sah durch ihn hindurch auf das feuchte, tropfende Felsgestein in seinem Rücken und dachte: nein, nein, nein … sag’s nicht, und hörte ihn sagen: »Und ich hab dir geglaubt!«

Ich wollte sprechen, wollte antworten und fühlte Leere in mir, bleischwere Müdigkeit und dachte: Sie hat uns … verraten, und hörte mich ganz laut schreien: »Ich schwöre, ich habe von allem nichts gewußt!«

Hinaus rannte ich in den dunklen, kalten, modrigfeuchten, ganz und gar finster werdenden Gang.

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